Zwei Jahre lang habe ich versucht, herauszufinden, warum es mir plötzlich schlecht ging. Was in meinem Körper passierte, was alles auf den Kopf stellte, was mich in jeglicher Hinsicht ausbremste und mich ungewollt zu einem anderen Menschen machte.
Ich wollte einen Grund, eine Ursache – quasi einen „Schuldigen“. Da keine Krankheit als „Schuldiger“ identifiziert werden konnte, suchte ich die Schuld bei mir – in meinen Gewohnheiten, meinem Lebensstil, meiner Persönlichkeit. Zuerst warf ich mir das Naheliegende vor:
- Ob es eine Form von Übertraining ist, ich einfach immer zu viel gemacht hatte? Ich habe immer aus Spaß an der Freude Sport gemacht, nie gezielt mit Struktur trainiert, sondern auf meinen Körper gehört. Vielleicht habe ich seine Signale überhört?
- [Übertraining ist recht sicher ausgeschlossen, da es auch mit der längsten Pause noch nicht einmal ein kleines bisschen besser wurde.]
- Ob es daran liegt, dass ich gelaufen bin, obwohl ich eine Hüftdysplasie habe?
- [Das scheint es auch nicht zu sein, denn man sieht im Röntgenbild deutlich den Gelenkspalt. Meine Hüftschmerzen können daher keine Form von Arthrose sein.]
Als das Plausible vom Tisch war, suchte ich mir andere Gründe. Und hatte dabei alles Mögliche und Unmögliche im Verdacht:
- Ob es vielleicht kam, weil ich manchmal mit überschlagenen Beinen sitze?
- Oder ob es daran liegen kann, dass ich zu wenig Kraft in den Abduktoren habe?
- Ob meine Muskulatur zu verkürzt ist, und ich noch mehr dehnen müsste?
- Ob ich zu viel Eiweiß esse oder zu viele entzündungsfördernden Dinge esse?
- Ob ich mal ein Medikament eingenommen habe, das diese Symptome hervorrufen kann, oder mich mit etwas anderem vergiftet habe?
Die Liste könnte ich endlos weiterführen. Unterm Strich bleibt, dass ich mir zusätzlich zu den Symptomen auch noch ein schlechtes Gewissen mache, mir selbst die Schuld gebe. Das macht es nicht gerade besser, und ist objektiv betrachtet totaler Quatsch!
Ich sitze selten mit überschlagenen Beinen, meine Abduktoren mögen etwas schwächer sein als die Adduktoren, waren aber vergleichsweise immer noch verdammt gut aufgestellt. Ich bin kein Schlangenmensch, aber auch nicht unbeweglich. Ich kümmere mich um meinen aktiven und passiven Bewegungsapparat und ernähre mich vernünftig!
Was ich lernen musste und immer noch muss, ist, dass es einfach ist wie es ist. Und das ich dafür aller Wahrscheinlichkeit nach nichts kann. Ich habe nichts falsch gemacht, und bin deshalb in diese Situation geraten. Wenn ich das verinnerlicht habe, kann ich meine Energie im positiven Sinn einsetzen, statt durch „mit mir hadernde Gedanken“ negative Energien zu erzeugen.
Und mal ganz davon abgesehen: Jedem Freund würde ich in meiner Situation sagen, dass er/sie definitiv nicht schuld an der Situation ist. Als mir das bewusst wurde, fragte ich mich, warum ich mit mir selbst so viel härter ins Gericht gehe, als mit jedem anderen Menschen. Zumal ich glaube, dass das ein weit verbreitetes Phänomen ist – die wenigsten sind zu sich selbst so nett wie zu anderen. Die Antwort fand ich in einem Hörbuch: Der „innere Kritiker“ ist dafür verantwortlich. Um zu erklären, was der innere Kritiker ist und wie er arbeitet, muss ich ein bisschen weiter ausholen:
Die Grundzüge, wie man sich in der Welt zurechtfindet und sein Leben meistert, lernt man in der frühen Kindheit. Eltern und Familie, Lehrer, soziales Umfeld, Religion und die Werte der Gesellschaft geben vor, was gut und richtig uns – und was nicht gut und schädlich für uns ist. Wenn ein Kind etwas „nicht richtig“ macht, wird es korrigiert, getadelt, ihm Konsequenzen angedroht oder bestraft – nicht, weil man das Kind bestrafen möchte, sondern in der Hoffnung, dass es daraus lernt. Langfristig gesehen ist es das Beste für das Kind.
Da Kinder vieles lernen müssen, gibt es jeden Tag vieles, woran andere etwas auszusetzen haben. Zudem haben Kinder eine eingeschränkte Sichtweise und bekommen daher vieles in den falschen Hals. So bewerten sie Worte und Verhalten als Ablehnung oder Kritik, auch wenn die „Großen“ es so gar nicht meinen.
Um die Ablehnung durch ihre Vorbilder zu vermeiden und deren Liebe und Anerkennung nicht zu verlieren, verinnerlichen Kinder deren Gebote, Verbote und Kritik. Das ist die Geburtsstunde des inneren Kritikers.
Anfangs leistet der innere Kritiker tolle Arbeit: Er passt auf, dass Kinder sich nicht in Gefahr bringen und das beherzigen, was ihre Eltern ihnen beibringen. Ähnlich wie ein modernes Auto beim Einparken meldet sich der innere Kritiker, wenn es gefährlich wird. Der innere Kritiker ist ein Freund und Beschützer, dessen Existenz Sinn macht.
Mit dem Älterwerden verändert sich der innere Kritiker. Viel zu oft meldet er sich an völlig unnötigen Stellen mit destruktiven Phrasen wie „das kannst du nicht“, „dazu hast du nicht das Recht“, „das darfst du nicht“, und so weiter. Um bei dem Autobeispiel zu bleiben: Das Warnpiepsen ertönt dauerhaft. Man traut sich kaum mehr vom Fleck, in jeder Richtung fürchtet man, gleich anzuecken. Der innere Kritiker bremst uns aus, hält uns klein, macht, dass wir uns in Frage stellen.
Sein Ziel scheint nicht mehr zu sein, seinen „Besitzer“ zu beschützen, sondern ihn zu schikanieren. Wie ein kleiner Tyrann fokussiert er sich darauf, was man falsch macht – und findet fast immer irgendetwas, wofür er seinen Besitzer verurteilen und ihn minderwertig fühlen lassen kann.
Zwei Beispiele:
- Vor allem hübsche Menschen hadern oft mit sich, wenn sie einen winzigen Pickel auf der Stirn haben. Weil der innere Kritiker sich auf diesen Pickel fokussiert. Kein anderer Mensch schaut auf diesen Pickel, sondern sieht die schönen Haare, Augen, Figur, .. . Aber der schöne Mensch sieht nur noch den Pickel und findet sich schrecklich.
- Für tausend Dinge, die man richtig gut hinkriegt, denkt man selten „Das hat super geklappt, das habe ich gut gemacht!“ Mir würde es ehrlich gesagt komisch vorkommen, das über mich zu denken. Oder, schlimmer noch, sogar zu sagen. Dasselbe über andere zu denken und anderen sagen, kommt mir hingegen gar nicht komisch, sondern ganz normal vor.
Ich glaube, fast jeder hat einen überwiegend negativ eingestellten Kritiker, unabhängig von seinem Elternhaus und der Erziehung. Unsere Gesellschaft fordert immer „weiter – höher – mehr“, man muss sich mich anderen vergleichen (lassen), und meistens gibt es irgendwo jemanden, der es besser kann – schon fühlt man sich „minderwertig“.
Ich hatte die tollste Kindheit, die man sich nur wünschen kann. Ich glaube (und hoffe), dass sich das auch in meinem Umgang mit anderen Menschen spiegelt – nur zu mir selbst bin ich nicht immer nett. Zum Glück erklärt das Hörbuch nicht nur, was der innere Kritiker ist, sondern auch, wie man sich mit ihm anfreundet. Wäre doch schön, wenn man lernen könnte sich innerlich zu unterstützen, statt sich ständig in Frage oder für Kleinigkeiten an den Pranger zu stellen.
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