Entschleunigung

So langsam aber sicher komme ich meinem „normalen Leben“ wieder näher. Ich bin zwar meilenweit davon entfernt, auf die Zugspitze zu rennen, oder die Alpen mit dem Rad zu überqueren – aber ich verbringe meine Tage wieder mit Dingen, die Spaß machen und gut tun.

Dabei erlebe ich viele „wieder-erste-Male“ von Dingen, die ich lange nicht mehr tun konnte. So bewusst und intensiv ich das erlebe, wird mir immer wieder vor Augen geführt, was ich alles vermisst habe – und umso mehr genieße ich, dass ich es aktuell tun kann.

Ich will ganz bestimmt nicht behaupten, dass ich vernünftig geworden bin – aber vielleicht ein bisschen ruhiger und bedachter. Ich lasse es langsam angehen, packe mir meine Tage (noch) nicht knallvoll, sondern nehme mir mehr Zeit für die schönen, alltäglichen Dinge.

Einen gemütlichen Spaziergang im Wald zum Beispiel kann ich erst genießen, seitdem Gehen für mich etwas Besonderes ist. „Früher“ fand ich Spazieren eher öde, wenn man doch stattdessen auch laufen könnte. Wandern machte mir höchstens auf extremem Untergrund Spaß, wo Laufen nicht möglich ist. Zügiges Wandern, versteht sich – ich wollte ja schließlich vorankommen. Komisch, mir war nie bewusst, mit welcher Hast ich durchs Leben gerannt bin. Wahrscheinlich hatte ich gar keine Zeit, es zu merken.

Früher konnte ich beim gemütlichen Spazierengehen nicht entspannen, da ich gedanklich schon in der nächsten „richtigen“ Aktivität war. Jetzt freue ich mich über jeden schmerzfreien Schritt, nehme die Umgebung, die Menschen und Tiere um mich rum, die Zeit und auch mich viel bewusster wahr, weil ich mental nicht weiterhetzen muss. Ich bin gedanklich dort, wo ich körperlich bin.

Dass das komisch klingt, ist mir durchaus selbst bewusst! 😀

Hätte mir vor zwei Jahren jemand gesagt, dass ich heute so etwas schreibe, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Ich hatte ein wundervolles Leben vor zwei Jahren! Jobs, die mich erfüllten, ein tolles Umfeld mit vielen Leuten, die ich gerne sehen wollte, und jede Menge Sportarten, die mir sehr viel Spaß machten. Alles, was ich tat, tat ich gerne, und wollte ich oft tun. Deshalb bastelte ich mir selbst jeden Tag eine überfüllte To-Do-Liste, voll mit Dingen, die ich liebte, die mich in der Summe aber auch stressten.

Einen Sonntag mit lieben Menschen auf einem Flohmarkt oder in einem Museum und im Café zu verbringen, und sonst nichts anderes zu tun, wäre mir zu meinen „fitten“ Zeiten wie verschwendete Zeit vorgekommen. Natürlich bin ich mitgekommen, schließlich wollte ich meine Freunde sehen  – auch die, die nicht mit mir Mammuttouren durch den Pfälzer Wald unternahmen. Aber ich hätte es nicht als Tagesprogramm akzeptiert, sondern es zwischendurch eingeschoben, wäre mit ein paar Umwegen mit dem Rad hingekommen und danach gleich weitergedüst.  Dass ich mir (und ihren) bestimmt keinen Gefallen getan habe, wenn ich zwar dabei, aber immer „auf dem Sprung“ war, wird mir erst jetzt bewusst.

„Auf dem Sprung“ ist ein gutes Stichwort – beziehungsweise für mich ein Schlechtes. In den letzten Wochen wurde mir klar, dass  ich das seit Jahren permanent bin. Wenn ich an einem Abend auf drei Veranstaltungen (meinetwegen eine Einweihungsparty, einen Geburtstag und eine Hochzeit) eingeladen war, nahm ich alle drei Einladungen an. Ich konnte und wollte nicht entscheiden, welche Veranstaltung die „Wichtigste“ ist – ich wollte zu allen drei gehen! Es ist ja auch toll und wundervoll, einen großen Familien- und Freundeskreis zu haben. Mir ging es nicht nur darum, dass ich niemanden vor den Kopf stoßen wollte, sondern vor allem darum, dass ich alle gerne sehen wollte.

Das hieß aber für mich: Bei der ersten Veranstaltung musste ich gehen bevor es richtig losging. Bei der zweiten hatte ich schon nur noch den halben Anschluss, und musste auch bald schon wieder weg. Und bei der dritten hatte ich den Anschluss endgültig verpasst. Natürlich kommt man trotzdem noch mit den Leuten ins Gespräch, und es ist trotzdem nett – aber eben etwas anderes, als einen ganzen Abend Zeit füreinander zu haben. Meine Oma sagt mir schon seit Jahren, ich könne „nicht auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen“. Ich glaube, jetzt habe ich verstanden, was sie mir damit sagen wollte.

Ich war in den letzten Jahren immer überall ein bisschen, aber nie irgendwo richtig. Schade, wirklich schade. Aber gut, es jetzt begriffen zu haben, dann kann man es ändern. „Nein sagen“ muss ja keine Ablehnung sein. Es kann auch „vielen lieben Dank für die Einladung, an dem Abend bin ich leider schon verplant, wollen wir in der Woche danach zusammen essen gehen?“ sein.

Im Moment ist das alles für mich leicht zu denken und zu schreiben, da ich mein altes Pensum bei Weitem nicht schaffen würde. Zudem weiß ich ja, dass es mir überwiegend Dank des Cortisons gut geht – und ich es nicht übertreiben darf, damit das auch so bleibt.

Sobald ich das Cortison reduziere oder absetze, ist es möglich bis wahrscheinlich, dass die alten Symptome wieder auftreten. Deshalb bremsen mich neben den nicht vollen Energiespeichern natürlich auch das Bewusstsein, dass mein Körper seine Ressourcen zum Gesundwerden braucht, und das „unterdrückte Krankheitsgefühl“.

So lange das Cortison meinen Alltag unterstützt und schöner macht, werde ich deshalb die Zeit nutzen, um an meinen mentalen Strategien zu arbeiten. Damit ich mein ruhigeres, gelasseneres Ich auch beibehalten kann, wenn ich körperlich wieder topfit sein sollte, und nicht zurück in mein altes „höher-schneller-weiter-da-geht-noch-mehr-Muster“ verfalle. Denn wenn ich ehrlich bin gefällt es mir sehr gut, mit einem gemütlichen Spaziergang zufrieden sein und mich daran erfreuen zu können.

Dass ich für meine tägliche Endorphindosis keinen flotten Lauf über die umliegenden Berge brauche, heißt ja nicht, dass ich mich nicht auch darüber mal wieder sehr (!!!) freuen würde. 🙂

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