Mitte finden

Aufgrund meiner langen „Krankheitsphase“ ist mein Leben zwangsläufig viel ruhiger geworden. Ich konnte nicht mehr Laufen, Radfahren, ins Schwimmtraining. Ich arbeitete weniger, gab keine Kurse mehr in „meinem“ Fitnessstudio, dass vorher so etwas wie mein zweites Zuhause war. Ich traf mich seltener mit Freunden, ging nicht mehr aus – weder Kino, noch Essen oder sogar Tanzen.

Dank des Cortisons geht es mir deutlich besser, all das kann ich wieder tun.

Und trotzdem ist es anders: Ich hätte nie gedacht, dass das irgendwann passiert, aber ich bin ruhiger geworden. Ich packe die Tage nicht mehr so voll ich kann. Stattdessen überlege ich, worauf ich Lust habe, und mache das bewusst. Ich muss nicht mehr ständig los, raus oder irgendwohin, sondern genieße den Moment, ohne ihn mir mit Gedanken an später zu „verstressen“.

Ich muss nicht mehr dreimal am Tag trainieren, sondern kann auch ganz entspannt jeden zweiten oder dritten Tag sportlich etwas „schönes unternehmen“. Erstaunlicherweise geht das sogar, ohne dass ich dabei das Gefühl zu haben zu wenig zu machen. Im Gegenteil – seit ich wieder etwas, aber nicht so viel machen kann, freue ich mich auf die Aktivitäten. Ich denke nicht daran, etwas zu verpassen, sondern den Moment richtig zu nutzen.

Bitte nicht falsch verstehen – ich war ‚früher‘ nicht unzufrieden oder weniger zufrieden als jetzt. Aber jetzt bin ich bewusster zufrieden: Mit dem Moment, meinem Leben, und mir. Vielleicht ist ein wichtiger Schritt dazu, seine Grenzen zu kennen und zu akzeptieren. Wer immer denkt, es geht noch mehr, rennt wie im Hamsterrad immer weiter und kommt nie an. „The sky ist the limit“ mag in manchen Momenten motivieren, es kann aber auch ganz schön unter Druck setzen, und das Gefühl vermitteln, dass man immer noch besser werden kann, und damit auch nie gut genug ist.

Auf der anderen Seite ist es schön, im Hinterkopf zu haben, dass Grenzen immer nur Momentaufnahmen sind. Vor allem in schlechten Phasen ist es wichtig, sich das immer wieder bewusst zu machen. Wenn man gerade noch nicht einmal mehr ein Stockwerk schmerzfrei hochkommt, und sich dabei vor Augen hält, dass man wenige Monate zuvor noch drei Mal auf die Zugspitze rennen konnte, kann das schon sehr hart sein. Da ist es hilfreich, darauf zu vertrauen, dass auch wieder bessere Zeiten kommen werden. Deshalb nutze ich die gute Phase, so lange ich Cortison nehme, um dieses Wissen so tief wie möglich im Unterbewusstsein zu verankern – in der Hoffnung, dass keine allzu schlechten Momente mehr kommen, in denen ich es abrufen muss! J

Mit dem „bewussteren Leben“ bewege ich mich auch weg von einigen Extremen, zu denen ich zugegebenermaßen einen starken Hang habe. Normales Mittelmaß fiel mir schon immer schwer, ich mache Dinge immer „ganz oder gar nicht“. Das ist schön, weil man dadurch in dem, was man gerne tut, schnell gut wird. Aber es ist natürlich auch anstrengend, und ganz bestimmt nicht immer gesund.

Während meines Studiums hatte ich verschiedene Nebenjobs (nicht weil ich musste, sondern hauptsächlich weil es mir Spaß machte), trieb sehr (!) viel Sport – und arbeitete in den Prüfungsphasen nächtelang durch. Schließlich hatte ich tagsüber selten Zeit, die Vorlesungen zu besuchen, und musste vieles Nacharbeiten. Trotzdem trainierte und arbeitete ich tagsüber, das machte ich zu gerne, um daran Abstriche zu machen.

Wach gehalten habe ich mich tage- bis wochenlang mit ungesunden Mengen an Kaffee, Energietee, Essen und Kaugummis. Es konnte schon mal passieren, dass ich beim Lernen nebenher und unbewusst eine 500 g Packung Kekse vertilgte. Oder 50 Kaugummis durchkaute. Das sah man mir nicht an, da ich im sportlichen Bereich genauso extrem war. Vor mir selbst und jedem, der meine Kaugummipapierberge sah und mich fragte, ob das nicht ungesund sei, rechtfertigte ich mich mit der Aussage: „Beim Kauen kann ich besser denken!“ So ein Schwachsinn!! Das hat nichts mit besser denken, sondern mit einer regelrechten Sucht zu tun. Man gewöhnt sich das Nebenher-Futtern nämlich nicht nur an, man wird auch regelrecht süchtig davon. Das mit den Koffein-Rezeptoren hatte ich hier schon Mal beschrieben. Aber auch Zucker und Süßstoffe machen auf ihre Art abhängig. Die gute Nachricht: Wenn man erst einmal davon weg ist, fällt der Verzicht gar nicht mehr schwer. Mein basisches Experiment hat mich in recht kurzer Zeit von einigen „Süchten“ befreit. Acht Wochen reichten, um mein Essverhalten und meine „Nahrungsgelüste“ nachhaltig zu beeinflussen. Ich empfinde es nicht mehr nur nicht als Verzicht, sondern habe sogar gar kein Verlangen mehr nach Kaugummis oder Kaffee. Zugegeben, nach Keksen ab und zu schon, aber lange nicht mehr so oft und stark wie vorher.

Ich mag das Wort „Achtsamkeit“ nicht sonderlich gerne, da es im Moment in jedem Zusammenhang missbraucht wird. Und dennoch muss ich es hier verwenden, denn genau darum geht es: Statt nebenbei unkontrolliert und unbewusst zu essen, habe ich mir angewöhnt, regelmäßig Pausen zu machen, und in dieser Zeit zu essen.

Ich halte das für doppelt sinnvoll: Beim bewussten Essen schlägt sich den Bauch nicht so voll, sodass genug Blut im Gehirn bleibt und man geistig Leistungsfähig bleibt. Nach zu schweren Mahlzeiten versackt das Blut im Verdauungstrakt, und man wird müde und träge: Der Kopf ist leer, wenn der Bauch arbeiten muss. Zudem steigert eine Denkpause die Effektivität der Arbeit. A propos Pause: Damit es als solche gilt, konzentriere ich mich wirklich aufs Essen. Ein nettes Gespräch geht dabei natürlich sehr gut und gerne, aber Lesen, Schreiben, Kleinkram erledigen ist in der Zeit nicht angesagt. Alles, was die Aufmerksamkeit vom Essen weglenkt, muss dann ein paar Minuten warten.

Damit komme ich zum zweiten Ausdruck in diesem Text, den ich nicht sonderlich gerne mag: „Alles zu seiner Zeit!“ Schwierig für jemanden, der immer alles auf einmal will. Ich arbeite daran 😀

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