Im Beitrag „Laufstilanalyse Teil 1“ habe ich schon ein bisschen über Sprengung philosophiert. Bevor ich im zweiten Teil der Reihe auf meine individuelle Laufstilanalyse eingehe, möchte ich heute meine Gedanken über das Thema Sprengung ein bisschen fortführen.
Zur Erinnerung: Die Sprengung beschreibt den Dickenunterschied der Sohle an der Ferse zur Sohle unter dem Fußballen. Grob geschätzt haben die gängigen Laufschuhmodelle eine durchschnittliche Sprengung von 12 mm. Was heißt das für uns?
Wir „bocken“ unsere Ferse auf, das heißt, wir stehen erst einmal schief. Stellt euch einen 1,70 m langen Stab vor, den man auf einer Seite nur wenige Millimeter vom Boden erhöht. Was passiert automatisch mit dem Stab? Er steht da wie der schiefe Turm von Pisa, logisch! Was passiert mit uns, wenn wir die Ferse erhöhen? Das gleiche. Das sieht man nur erst mal nicht, weil unser Fuß ein bisschen mehr Standfläche hat, aber vor allem, weil wir zwischen den Füßen und dem Kopf jede Menge Stellschrauben haben – unsere Gelenke! Wer seine Fersen erhöht, dessen Becken kippt zwangsweise nach vorne – ob er will oder nicht. Um das ganze auszugleichen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als ins Hohlkreuz zu gehen – und schwupps, schon ist der Kopf wieder über den Füßen, und wir sehen auf den ersten Blick gerade aus. Unsere Lendenwirbelsäulenmuskulatur muss aber den ganzen Tag Schwerstarbeit in einer ungesunden Haltung verrichten. Ratet, für wen das schlimm ist – richtig, für jeden! Jeder, der Rückenschmerzen hat, und sich überlegt, dass die vom vielen Sitzen kommen, hat bestimmt zum Teil Recht – aber möglicherweise kommen sie auch zum Teil vom Stehen in falschen Schuhen. Und jeder, der brav seinen Rücken trainiert, und den Rest des Tages in Schuhen mit Sprengung durch die Gegend läuft, macht die schönen positiven Effekte gradewegs wieder kaputt.
Schöner Mist.
Und wen betrifft das nun, wer läuft mit Sprengung durch die Gegend? Jeder, der es nicht ganz bewusst vermeidet! So gut wie jeder Schuh hat eine erhöhte Ferse. Bei den Lauf- und allgemein Sportschuhen fängt das gerade erst an. Bei Alltagsschuhen, oder noch schlimmer chicen Schuhen, sind die Absätze oft noch viel höher – vor allem bei Frauen, aber auch fast alle Herrenmodelle weisen ordentlich Sprengung auf.
Warum eigentlich?
Früher hatten die erhöhten Absätze einen ganz banalen, praktischen Zweck: Sie verhinderten, dass Reiter mit ihren Füßen durch die Steigbügel rutschten. Auf dem Pferd mag das sinnvoll und für die Körperstatik auch nicht schädlich sein. Doch zum einen sind wir heute eher selten auf dem Pferderücken unterwegs, und zum anderen wurden die Absätze aus modischen immer höher: Denn scheinbar war schon unseren Vorfahren vor vierhundert Jahren klar, dass sie durch höhere Absätze nicht nur insgesamt größer und ihre Beine länger wirkten, sondern auch ihre Proportionen besser zur Geltung kamen: Durch das nach vorne gekippte Becken und das daraus entstehende Hohlkreuz steht der Po nämlich nach hinten raus und der Oberkörper wird betont. Wundervoll, eine knackige Rückansicht ohne sich im Training abzurackern zu müssen – das ist natürlich auch heute noch sehr gefragt. Wer ab und zu mal auf Stöckelschuhen unterwegs ist, wird sich dadurch nicht gleich irreparable Schäden zuziehen (gesetzt den Fall, er/sie kann darauf laufen), da wir aber unfreiwillig nahezu IMMER mit Sprengung unterwegs sind, sobald wir Schuhe tragen (selbst Hausschuhe!), wirkt sich das langfristig sehr wohl ungünstig auf unsere Statik aus.
Fangen wir mal unten an: Eine erhöhte Ferse verringert die Spannung der Achillessehne. Dadurch steht zum einen die Energie der Vorspannung beim Abdruck des Fußes nicht zur Verfügung (was zu einem kraftlosen Abdruck des Fußes führt), zum anderen verkürzt die Achillessehne immer mehr, da sie sich an die Position gewöhnt. Gleichzeitig verkürzt auch die sogenannte Streckerkette, das heißt die Wadenmuskeln, vordere Oberschenkelmuskulatur und Pomuskulatur – also all die Muskeln, die für die Körperstreckung und damit einen dynamischen, kraftvollen Laufstil nötig sind. Zudem werden durch die veränderte Fußstellung die Knie stärker belastet. Im Fuß selbst verlagert sich die Belastung auf den Vorfuß, wodurch ein Spreizfuß und ein Hallux Valgus (Schiefstand der Großzehe) entstehen kann.
Viel Sprengung klingt demnach wie eine sehr nutzlose und schädliche Sache, auf die man ab sofort verzichten sollte? Jein! Wer sich über Jahre daran gewöhnt hat, verschlimmbessert die Situation, wenn er plötzlich und übergangslos auf seine erhöhten Absätze verzichtet. Während sich die Muskulatur recht schnell anpassen kann, brauchen Bänder und Sehnen sehr viel länger, um sich an die neuen Belastungsformen anzupassen. Achillessehnenentzündungen und Reizungen der Fußsohlen können die Folge zu schneller Umstellungen sein. Langsames, schrittweises Umgewöhnen in Verbindung mit Kraft- und Beweglichkeitstraining für die Bein- und vor allem Wadenmuskulatur ist der Schlüssel zum Erfolg.
Für mich persönlich ist das eine wichtige AHA-Erkenntnis. Eines meiner Kernprobleme meiner letzten Läufer-Jahre war, dass ich, sobald ich loslaufe, immer in ein Hohlkreuz verfalle. Sicherlich spielt da mein Körperbau und mein Muskeltonus eine wichtige Rolle, aber genauso kann es möglich sein, dass mein Gehen, Stehen und Laufen auf Sprengung eine Rolle dabei spielt – denn wie fast alle, tue ich das natürlich leider schon immer.
Deshalb beschäftige ich mich aktuell sehr intensiv mit dem Thema natürlich stehen, gehen und laufen – barfuß, oder in Barfußschuhen, auf jeden Fall ohne Sprengung. Das ist verdammt anstrengend, und gar nicht so einfach – aber ich habe die Hoffnung, dass es sich lohnt 🙂
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