Mentaltraining

Vor acht Jahren warf mich sportlich gesehen zum ersten Mal etwas so richtig aus der Bahn: Ich war damals läuferisch für meine Verhältnisse richtig gut drauf, war Leistungsträgerin in meiner Handballmannschaft und in der Saison gerade mit den Mädels aufgestiegen. Alles lief super, und ich konnte und wollte mich nicht entscheiden. Warum Handball oder Laufen, wenn auch beides geht? „Man kann nicht auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen“ – wer sagt das?

Also rannte ich an einem Sonntagmorgen einen Volkslauf über 10 Kilometer, und spielte abends Handball. Bei einem Tempogegenstoß drehte ich mich um, um den Pass von der Torhüterin im vollen Lauf zu fangen. Daher sah ich die Abwehrspielerin, die mit voller Wucht in mich hineinrannte, zu spät. Mein Unterschenkel blieb stehen, das Knie drehte sich mit dem Rest des Körpers. Ein lauter Knall – und das war es mit meinem rechten vorderen Kreuzband.

Schlecht für eine Läuferin.

Ganz schlecht für eine Handballerin.

Ein halbes Jahr Arbeitsausfall für eine Trainerin.

Eine Katastrophe für eine Sportstudentin am Tag vor Beginn ihres zweiten Semesters.

Vor allem, weil ich es hätte besser wissen müssen! Jedem anderen würde ich davon abraten, wenn ich es könnte solche Aktionen sogar verbieten. Warum ich der Meinung war, dass die physiologischen Gesetze der Körpers für mich nicht gelten, weiß ich nicht.

Vielleicht hätte es gar nichts geändert. Aber vielleicht hätte ich noch das entscheidende Quäntchen mehr Spritzigkeit zum Ausweichen gehabt, wenn ich mir nicht am gleichen Tag schon einmal alles abverlangt hätte. Nach einem Wettkampf braucht man die Hälfte der Kilometer in Tagen an Regeneration, habe ich schon damals als Trainer gepredigt. Wären für mich fünf Tage gewesen. Ich hatte mir gerade einmal fünf Stunden gegeben, in denen ich vom Lauf zum Spiel gehetzt war.

Direkt nach der OP, noch benebelt von der Narkose, rief ich einen meiner Lauftrainer an. Ich wollte wissen, woher ich ein Liegerad bekommen könnte, damit ich in den folgenden Monaten trainieren könnte. Das Liegerad konnte er mir zum Glück ausreden, aber dafür einen sehr wichtigen Satz mit auf den Weg geben. Einen Satz, mit dem ich damals noch überhaupt nichts anfangen konnte, von dem ich mich sogar ein bisschen veräppelt fühlte. Erst im Nachgang wurde er zu einem sehr wichtigen Gedankengang für mich, aus dem ich noch heute viel Kraft ziehe.

„Du kommst immer stärker aus so etwas raus, als du reingegangen bist!“

Tolle Nummer. Ich lag in einem affigen OP-Hemd im Krankenhaus, mir war schlecht von der Narkose. Ich wusste, dass ich die folgenden acht Wochen mit Krücken gehen und danach lange Wochen daran arbeiten musste, mein Bein wieder richtig beugen zu können, von der Koordination ganz zu schweigen. Eine Woche zuvor konnte ich noch schnell rennen, mit viel Gewicht Kniebeuge um Kniebeuge drücken, einbeinig auf Bällen stehen. Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder so fit sein würde. Und hatte absolut keine Vorstellung, wie ich stärker aus der Nummer wieder rauskommen sollte.

Das einzige, was mir an Ausdauertraining für mich möglich gewesen wäre, war Kraulschwimmen ohne Beine. Als die Narbe soweit verheilt war, dass ich ins Wasser durfte, besorgte ich mir deshalb eine zweite Schiene und kraxelte ins Schwimmbad. Blöde nur, dass ich nicht kraulen konnte! Natürlich konnte ich schwimmen, gut sogar –aber eben nur Brust, und das geht ohne Beine schlecht.

Kraulend schaffte ich nur so viele Armzüge, wie es ohne Atmung ging. Also startete ich nah am Rand: Kraulte, soweit ich ohne Atmung kam, japste am Rand nach Luft, und weiter. Da mir in der Zeit recht langweilig war (ich konnte ja nicht wirklich trainieren), ging ich oft schwimmen. Nicht, dass ich eine gute Schwimmerin geworden wäre. Aber ich war schnell an dem Punkt, an dem ich ein vernünftiges Ausdauertraining im Wasser hinbekam.

Nach ein paar Wochen konnte ich mein Bein wieder so weit beugen, dass ich vorsichtig aufs Rad durfte. Also kaufte ich mir ein neues Rennrad, und fuhr durch die Gegend. Auch auf dem Rad verbesserte ich mich dadurch recht schnell.

Ein halbes Jahr nach dem Kreuzbandriss durfte ich wieder laufen – und konnte plötzlich auch Schwimmen und Radfahren. Der für mich völlig logische Schritt war die Teilnahme an einem Triathlon. Für meine ersten Ironman (3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren, 42 km laufen) wollte ich mir noch ein Jahr Zeit geben.

Weil ich es vorher schon Mal versuchen wollte, startete ich im August 2010 spontan bei meinem ersten Triathlon, der Mitteldistanz in Offenburg. 1,9 km Schwimmen (Kraulen! J), 90 km Radfahren auf einem geliehenen Triathlonrad, 21 km laufen. Und das ging gut, richtig gut! Ich kam ganz ok aus dem Wasser, etwa im Mittelfeld. Auf dem Rad kam ich super zurecht und machte einige Plätze gut. Beim Laufen zündete ich den Turbo, holte Platz um Platz auf und wurde bei meinem ersten Triathlon in 5:16 Stunden Gesamt-Dritte – nur ein dreiviertel Jahr nach der Verletzung und damit meinem Schwimm- und Radtrainingsstart.

Und da verstand ich plötzlich zum ersten Mal, was „stärker rauskommen“ bedeuten könnte: Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Handball an den Nagel zu hängen und mich vom Laufen zum Triathlon weiterzuentwickeln, wenn ich nicht durch die Verletzung Neues hätte lernen „müssen“. Durch das Schwimmen und Radeln wurde ich zudem auch eine bessere Läuferin.

Richtig gut vorbereitet stand ich ein Jahr später beim Ironman am Start. Natürlich war ich nervös. Aber ich wusste, dass ich körperlich und mental fit genug war, sicher ins Ziel zu kommen.

Bis ich kurz nach dem Start überschwommen und dabei lange unter Wasser gedrückt wurde. Ich schluckte viel Wasser und bekam dabei Matsch in die Lunge. Natürlich merke ich, dass ich Wasser schluckte – aber normalerweise gelangt davon ja nichts in die Atemwege. Ich schwamm zurück zum Ufer, spuckte viel Wasser, zog den Neo aus, weil ich darin keine Luft mehr bekam, und schwamm wieder los. Ich merkte schon, dass ich schlecht Luft bekam, aber mir war nicht bewusst, dass wirklich etwas nicht stimmte.

Ich schwamm Brust mit dem Kopf über Wasser, so konnte ich besser atmen. Auf meinem Triathonrad hielt ich mich mit den Händen an den Auflegern fest, statt die Unterarme in aerodynamischer Position darauf abzulegen. Wie auf einem Hollandrad zuckelte ich die 180 Kilometer ab. Den abschließende Marathon wanderte ich mehr, als dass ich lief. Machte viele Pausen. Trotzdem war ich irgendwann im Ziel.

Dort zogen mich die Sanitäter direkt raus und brachten mich ins Krankenhaus. Meine Lunge war durch den Schmutz stark entzündet. Ohne das Adrenalin des Wettkampfes merkte ich erst, wie schlecht es mir ging. Mir war schwindlig, ich konnte kaum atmen.

Die Ärzte befürchteten einen Lungenkollaps, aber es blieb zum Glück „nur“ bei der Lungenentzündung. Da ein großer Bereich der Lunge betroffen war, hieß es wieder lange pausieren.

Dieses Mal fing ich keine neue Sportart an. Aber ich lernte viel über meine Psyche. Verbrachte viel Zeit mit mir selbst, musste lernen, mich mit der „Ruhe“ auseinanderzusetzen, die einkehrt, wenn man von einem hochaktiven Lebensstil plötzlich monatelang die Füße still halten muss. Ich wurde in dieser Zeit vorsichtiger und fürsorglicher mir selbst gegenüber, lernte, geduldig mit mir zu sein. Ich begann zu akzeptieren, dass mein Körper und mein Kopf Zeit brauchten, und räumte mir die Zeit ein – ohne destruktive Gedanken an „ich muss doch jetzt aber wieder fit werden“. Ich lernte, mich nach meinem Körpergefühl zu richten, und nicht nach Plänen – egal ob im Privatleben, im Beruf, bei der Ernährung oder im Sport.

Ein Dreivierteljahr lang bewegte ich mich nur dann, wenn ich wirklich Lust darauf hatte – das war in dieser Zeit nicht allzu oft. Aß, was immer ich wollte, und legte gute zwölf Kilo dabei zu. Dann kam der Tag, an dem mein Körper fertig war mit regenerieren. Woran genau ich das merkte, weiß ich nicht. Ich wusste es einfach. Ich stellte meine Ernährung um und begann wieder mehr zu trainieren. Nicht weil ich dachte ich müsste, sondern weil ich wieder richtig Lust darauf hatte. Innerhalb kurzer Zeit hatte ich meinen „Regenerationsspeck“ weg und war fitter als je zuvor.

Mein erster Triathlon danach war eine mentale Höchstleistung. Vor dem Start stand ich zitternd auf dem Schiff, von dem wir in den Rhein springen sollten. Ich ließ alle (!) anderen Starter ins Wasser und sprang als allerletzte rein. Nochmal würde ich mich nicht überschwimmen lassen! Nachdem der Start überstanden war, war ich wie entfesselt. Schon im Wasser lief es richtig gut. In diesem und auch den folgenden Wettkämpfen pulverisierte ich alle meine persönlichen Bestzeiten. Das konnte nicht an dem erst seit kurzem wieder aufgenommenen Training liegen – das lag am Kopf! Schwimmen, in die Pedale treten und die Füße voreinander setzen konnte ich vorher schon. Aber jetzt war ich mental stark. Hatte nicht mehr nur ein Kämpferherz, sondern neben dem Willen dazu auch die Fähigkeit, den Körper zu kontrollieren.

Niemals hätte ich mir aus dem Training raus die Zeit für Mentaltraining genommen. Während ich nichts anderes tun konnte, tat ich es zwangsweise – und wieder war ich stärker aus der „schlechten Phase“ rausgekommen.

Ich bin mir sehr sicher, dass ich auch aus der aktuellen Phase stärker herauskommen werde. Unabhängig von Bestzeiten bin ich dabei zu lernen, was wirklich zählt. Natürlich ist es hart für mich zu akzeptieren, dass ich möglicherweise nie wieder Sport machen kann. Immer noch. Und natürlich hätte ich unendlich gerne meine körperliche Leistungsfähigkeit zurück. Für mich war das wie ein sehr schmerzhafter Identitätsverlust. Da gibt es nichts schönzureden, das bescherte mir einige sehr unschöne Stunden und schlaflose Nächte. Aber während ich dachte, mich zu verlieren, fand ich mich auf einer anderen Ebene wieder. Gezwungenermaßen verzichte ich auf die sportliche Oberfläche, über die ich in den vergangenen Jahren manchmal versucht habe, mich zu identifizieren.

Aber ist Berge hochrennen wirklich das, was mich ausmacht? Das einzige, was mich erfüllt? Natürlich nicht! Es gibt viele tolle Freunde, und vieles was mir Freude bringt, was auch ohne die „Sport-Hülle“ bleibt. Das ist eine wichtige und wertvolle Erkenntnis, für die ich dankbar bin. Zudem lerne ich durch diese ganze Geschichte und in der freien Zeit viel über verschiedene Krankheitsbilder, Behandlungsmethoden und psychologische Strategien, was mich persönlich wie beruflich weiterbringt.

Wahrscheinlich ist es gut, dass ich mich schon nach dem Ironman auf ähnliche Art mental mit mir auseinandersetzen musste. Das kommt mir jetzt zu Gute. Ich warte nicht mehr ganz so ungeduldig darauf, wann ich endlich wieder durchstarten kann. Ich gebe mir Zeit und lasse es auf mich zukommen. Das heißt nicht, dass ich mich nicht wie ein Schnitzel auf den Moment freue, wenn ich zum ersten Mal wieder meine Laufschuhe schnüren kann.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert